“Warum wir müde sind” von Michael Jordan
von Thorsten Hanisch
Bei Warum wir müde sind handelt es sich um einen Comic des Erlanger Künstlers Michael Jordan, der hauptsächlich als Zeichner, Druckgrafiker und Dozent tätig ist. Zwei der drei Kapitel (Digging into Silence und Warum wir müde sind), wurden bereits 2017 und 2019 in der Publikationsreihe Tonto Comics veröffentlicht, das dritte, Die Verwischten, ist neu. Es findet sich zudem eine Notitz, dass der Comic in “einem jahrelangen, vielschichtige verwobenen Prozess” entstand, was angesichts des Resultats absolut glaubhaft ist. Erzählt oder vielmehr deliriert wird von einem Protagonisten, der durch eine postapokalyptische Waldlandschaft irrt, durch eine Öffnung in einem Baum immer tiefer in ein geheimnisvolles Höhlenlabyrinth gerät, wieder zurück in eine ausgestorbene, abgerissene Stadt kommt, sich “um seine Gesundheit” kümmern will und dadurch an einen mysteriösen Konzern gerät, der …ja was eigentlich genau treibt?
Man merkt schon, Warum wir müde sind ist nach allen Seiten offen. Es handelt sich um einen in Comicpanels gegossenen Traum, eine Aneinanderreihung von Momenten, deren irrealer Logik man trotz gewisser verschwommener Referenzen in Richtung Alice im Wunderland oder Franz Kafka (und wahrscheinlich noch vielen anderen Eckpunkten) wohl nie auf die Spur kommen wird, aber trotzdem gerne folgt.
Das liegt vor allem an der großartigen, sehr atmosphärischen, Gestaltung, die mit ihren im Retro-Design gehaltenen Bildern wie nur wenige Comics dem ästhetischen Konzept vom Erhabenen (oder Sublimen) huldigt, hier im Kontext des Industriezeitalters.
Diese Form der Ästhetik geht bis auf die alten Griechen zurück und wurde im l8. Jahrhundert von Edmund Burke mit seinem Text Philosophische Untersuchung über den Ursprung des Erhabenen und Schönen maßgeblich geprägt und war seinerzeit zum Beispiel stete Begleiterscheinung der »Gothic Fiction«-Literatur. Laut Burke handelt es sich beim Erhabenen im eine Ästhetik, die uneinheitlich, befremdlich, verstörend, Furcht einflößend ist. Also kein sorgfältig durcharrangierter Garten oder klar gegliederte neoklassische Architektur, sondern ein wildes, ursprüngliches Gebirgspanorama oder antike Ruinen – das Erhabene ersetzt Schönheit im klassischen Sinne, also Schönheit, die niemandem weh tut, die geschmeidig, komfortabel ist, durch Schönheit, die Ehrfurcht und gegebenenfalls Schrecken auslöst.
Und genau das ist hier der Fall, egal ob draußen, in der Natur, in der Stadt, in einer U-Bahnstation, auf Industriegeländen oder in Laborräumen: Die Bilder wirken finster, schmutzig, unstrukturiert, undurchschschaubar, aufgeladen mit undefiniertem Schrecken, aber gerade deswegen imposant, durchzogen von einer außenweltlichen, regelrecht magnetischen Schönheit.
Der Verlag bemüht in seiner Ankündigung nicht ohne Grund einen Vergleich zu US-Regisseur David Lynch, der sich mit assoziativ erzählten, nicht unähnlich gestalteten Bildwelten wie Earaserhead (1977) oder Lost Highway (1997) oder Mulholland Drive (2001) ein Platz in der Kinogeschichte gesichert hat. Ein bisschen muss man aber ebenso an den russischen Großmeister Andrei Tarkowski und dessen Sci-Fi-Klassiker Stalker (1979) denken. Jedenfalls Erzählungen, die narrative Fesseln zu Gunsten der Fantasie, der Liebe zum wild-wuchernden Träumen hinter sich lassen, und hier reiht sich Jordans fantastischer Bildreigen nahtlos ein. Ein kleines Meisterwerk, aber eins, auf das man sich einlassen muss. Für Menschen, die auch mal loslassen können!
(comixene Nov. 2020)