White
land – das ist die Suche nach dem weißen, unbeschriebenen
Blatt, ein gleichermaßen utopischer und atopischer Ort. Ein weißer
Spot auf der Landkarte, den es aufzusuchen gilt und der doch nie zu erreichen
ist.
White land – welche Auswirkungen hat dieser Nicht-Ort für die
Wahrnehmung, das eigene Arbeiten, die Kunst? Vielleicht jene: Die Einsicht
in die Unmöglichkeit, diesen Ort dingfest machen zu können und
zugleich die unermüdliche Annäherung an denselben. Mehr noch:
Die Einsicht, das noch nie Dagewesene nur in der Begegnung mit anderen
künstlerischen Perspektiven, in der Begegnung mit dem Anderen als
dem absolut Anderen zu erahnen. Und nicht zuletzt die Einsicht, dass es
gerade diese Begegnung ist, die dazu führt, die eigene künstlerische
Position stets zu hinterfragen und weiterzudenken. Zu öffnen auf
ein white land hin.
White land I – Im Juli 2008 wagen die Künstler Pakito Bolino,
Michael Jordan, Helmut Kaplan und Edda Strobl in Marseille das Experiment,
die eigenen Arbeiten in genau diesen Kontext mit dem Anderen zu stellen.
Eine gemeinsame Publikation entsteht, die sich als Begegnung und Konfrontation
mit anderen künstlerischen Positionen versteht, eine Begegnung auch
zwischen dem Grazer Autorenkollektiv Tonto und Pakito Bolino, der das
Kollektiv und den gleichnamigen Verlag Le dernier cri gründete. Durch
diese Auseinandersetzung und Gegenüberstellung ergeben sich neue
Perspektiven, die schließlich auch Rückwirkungen auf das eigene
Schaffen haben. Jeder einzelne von ihnen betritt ein white land: white
land in Bezug auf den Umgang mit der eigenen Arbeit, white land auch in
Bezug auf die Wahrnehmung der Dinge an sich.
Dass sich diese Öffnung aber nicht nur durch die Konfrontation mit
anderen künstlerischen Perspektiven ereignen kann, zeigt uns Michael
Jordan mit seinen Arbeiten. So gesehen ist seine aktuelle Ausstellung
white land II als Weiterführung dieser Begegnung zu sehen.
White land II – Michael Jordan, der seit November 2008 eine Professur
der Friedrichs-Stiftung an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach
innehat, studierte in Hamburg und Wien Illustration und Druckgrafik. Mit
seiner Arbeit erweist er sich als Grenzgänger, der sich auf genau
diese Suche nach dem white land macht. Immer wieder betritt er Schwellenräume,
konfrontiert mit dem Anderen, bringt scheinbar Unvereinbares zusammen.
Dementsprechend ist ein dezidiertes Anliegen seiner Arbeit, eine spannungsvolle
Verbindung von Druckgrafik und Zeichnung zu erzeugen.
Bereits das Konzept der Ausstellung white land II entführt den Betrachter
in solch einen Grenzraum: Der Kontext der Galerie gibt den Rahmen vor,
Kunst wird hier zur An-sicht gebracht. Doch durch die Anordnung der Arbeiten
begibt sich der Besucher gleichsam in einen showroom, einen Laden mit
Schaufenstern, wodurch nicht nur den Rahmen der Kunst aufgebrochen und
an die plakative Welt der Werbung erinnert, sondern die auch mit der Wechselwirksamkeit
von Intimität und Öffentlichkeit gespielt wird. Kunst wird ausgestellt,
zur Schau gestellt, und gibt sich durch diese Zurschaustellung mit ihrem
Innenleben dem Betrachter preis. Die Grenze zwischen Kunst und Kommerz,
Kultur und Unterhaltung, die schon längst nicht mehr klar zu ziehen
ist, wird hier einmal mehr zur Disposition gestellt. Mehr noch: sie wird
ausgestellt, thematisiert und sprengt so die Grenzen des Diskurses. Der
Kunstbegriff erfährt durch diese Gegenüberstellungen eine Erneuerung
und Erweiterung von seinen Rändern her und betritt damit auch ein
white land.
Diese Erweiterung führt uns Michael Jordan auch in seinen Arbeitstechniken
vor, die sich oftmals zwischen Natur und Kultur bewegen. Ein Zusammenspiel
von Zufall und Konstruktion prägt die künstlerische Gestaltungsweise.
Jordan lässt uns teilhaben am Entstehungsprozess seiner Arbeiten,
gewährt uns den intimen Einblick in das scheinbar Unfertige, Zufällige.
Mehr noch: Der Prozess selbst wird zu einem künstlerischen Ereignis.
Gerade die verwendeten Drucktechniken, allem voran der Blaudruck, stehen
exemplarisch für diese Wechselwirksamkeit von Natur und Kultur und
erzählen von der unkalkulierbaren Kraft der Natur, die stets den
künstlerischen Entstehungsprozess mitbestimmt und das Ergebnis zu
einem unvorhergesehenen Ereignis werden lässt. Zu einem white land,
das Künstler und Betrachter gleichermaßen überrascht und
jeweils neue Perspektiven eröffnet.
Vor allem aber entführt uns Jordan durch seine Arbeiten selbst in
ein white land. In seinen Bildern und Künstlerbüchern werden
Grenzbereiche aufgesucht. Grenzbereiche zwischen Bild und Schrift, Sagbarem
und Unsagbarem, Anwesenheit und Abwesenheit. Das Genre des Comics wird
aufgebrochen, gezeigt werden poetische Bilderzählungen, die sich
zwischen Realität und Fiktion bewegen. Der Betrachter wird in phantasmatische,
mythische Welten entführt, um ihn dann umso abrupter wieder zurückzuholen
durch allzu genaue zeichnerische Elemente, durch plakative Momente, die
wiederum ins Irreale kippen. Ein spannungsvolles Wechselspiel beginnt,
das das Leben als Versuchsanordnung erscheinen lässt und von dem
vergeblichen Versuch erzählt, Ordnung in das Chaos zu bringen, Orientierung
zu stiften.
Seine Bilder eröffnen einen Imaginationsraum, der sich dem Betrachter
nicht als geschlossenes System darbietet, sondern als noch auszuhandelnde
Geschichte. Jede Zeichnung, so scheint es, kreist um eine Leerstelle und
verweigert sich dadurch einer Festschreibung. Im Moment dieser Verweigerung
liegt zugleich die poetische Kraft der Zeichnungen, die von dort aus ihre
Dynamik entfalten.
Jordans Bilder brechen mit gängigen Kategorien wie Mensch und Tier,
Mann und Frau. Sie changieren zwischen Terror und Wahnsinn, Geburt und
Tod, erzählen von Werden und Vergehen und führen den Betrachter
schließlich an die Grenzen der eigenen Wahrnehmung. Sie hinterfragen
seine bisherige Sicht auf die Dinge, indem sie ihm die Perspektive auf
das Andere, das noch nicht Erfahrene, ermöglichen. Scheinbar voneinander
getrennte und unvereinbare Bereiche werden in Wechselwirkung zueinander
gebracht, aus der heraus sich eine Phantastik entwickelt, die zum integralen
Bestandteil der eigenen Lebenswirklichkeit wird. In alptraumhaften Sequenzen
konfrontieren Jordans Bilder den Betrachter mit seinem eigenen white land,
machen Angst und Lust zugleich, treiben ihn hinein in das Chaos, um ihn
im gleichen Moment wieder in märchenhafte Welten zu entführen.
Die aufgemachten Grenzbereiche sind also immer auch Grenzbereiche des
eigenen Selbst.
Auf eine erzählerische Reihung wird dementsprechend verzichtet, eine
Chronologie nicht vorgegeben. Stattdessen entwickeln und verändern
sich die Bilderzählungen in Abhängigkeit von Betrachtungsweise
und Kontextualisierung und sind geprägt durch ein Zugleich an Offenheit
und Präzision. Der Betrachter ist schließlich selbst gefordert,
in Auseinandersetzung mit dem Dargestellten, sein eigenes white land zu
betreten, seine eigene Geschichte zu (er)finden. So gesehen ist jeder
Einzelne eingeladen, in Auseinandersetzung mit den sich ihm eröffnenden
Bildwelten, sich selbst zu begegnen.
White land schließlich ist auch ein selbstreflexives Moment der
Kunst: Es erzählt von dem Umkreisen der Leerstelle, der Unmöglichkeit,
das weiße Blatt erstmals zu bearbeiten. White land wird als Mythos
vorgestellt, an dem es mit und mit dem es zu arbeiten gilt. So verstandene
Kunst ist also immer auch eine Arbeit am Mythos.
White land betritt auch die Galerie in der Hirtengasse, die am heutigen
Tag mit der Ausstellung von Michael Jordan eröffnet wird. Der Berufsverband
Bildende Künstler und Künstlerinnen Nürnberg hat die Räume
vor einem Jahr angemietet und somit einen weiteren Ort für den Austausch
ermöglicht. Einen Raum für die Auseinandersetzung mit künstlerischen
Perspektiven, einen Raum für die Konfrontation mit dem Anderen, was
Kunst immer auch ist.
Aus diesem Grund freue ich mich ganz besonders über die Einladung
von Michael Jordan, heute hier sprechen zu dürfen und mit Ihnen zusammen
dieses – vielfältige – white land zu betreten.
von
Dr. Stephanie Waldow
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